Der vierte Teil meines “A Tempo Projektes” ist veröffentlicht: Frédéric Chopins 12 Etüden Opus 10. Das Meisterwerk ist Teil des Repertoires vieler Pianist*innen. Ebenso ist die Frage der Tempi für die 12 zauberhaften Stücke Gegenstand langer Debatten: die von Chopin selbst angegebenen Metronomzahlen sind teilweise so schnell, dass sie bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt wurden. Worte wie “Spieldoseneffekte” wurden geprägt, um die rasende Geschwindigkeit zu charakterisieren. Und: Pianisten wie Theodor Kullak und Hans von Bülow empfahlen, das Tempo zu mässigen.
Mein Ansatz, die Metronomzahlen Chopins zu halbieren, mag radikal erscheinen. Aber er scheint im historischen Kontext auf, und vor allem fördert er eine Interpretation zutage, die “funktioniert” und die hinter der Bravour plötzlich Intimität, Tiefe und eine ungemeine Kraft wahrnehmen lässt.
Aufnahmeort ist der Herkulessaal der Münchner Residenz – zufälligerweise derselbe Saal, in dem Maurizio Pollini 1972 seine berühmte Aufnahme der Etüden gemacht hat.
Neben der Musik enthält “Chopin A Tempo” deutsche und englische Einführungen sowie eine dreiteilige Serie über historische Metronomzahlen und Tempo. Ebenfalls ist das Album als CD/DVD erhältlich.
Youtube-Playlist
Historische Metronomzahlen und Tempo – eine Einführung
Historical Metronome Markings – A Short Introduction
CD/DVD
Hinter all den virtuosen Kaskaden kommen bei langsamerem Zugang plötzlich viele Zwischenfarben und Zwischenräume zum Tragen. Statt des Huschens plötzlich fein Hingetupftes. Begleitfiguren und Spannungsbögen werden klarer, über kein Detail wird einfach nur hinweggefegt. Bernhard Ruchti stellt mit seiner nie akademisch klingenden Philosophie diese Etüden eher in den Bereich sehr poetischer Charakterstücke. Denken statt Rasen mit dem Gewinn eines enormen Artikulationsreichtums. Eine aufregende, spannende, neue Chopin-Hörerfahrung.
Martin Preisser (St. Galler Tagblatt)